Einschnitt ins Leben - die Kastration des Hundes wissenschaftlich betrachtet

Ein Fachbeitrag der Verhaltensbiologin Carina Kolkmeyer

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Zuletzt aktualisiert am: 12.4.2024

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Das wichtigste in Kürze

  • Kastrationsentscheidung: Die Entscheidung für oder gegen eine Kastration sollte individuell und nie pauschal getroffen werden, da es keine einheitliche Antwort auf die vielschichtigen Fragen rund um die Kastration gibt.
  • Kastrationsmethoden: Die chirurgische Kastration umfasst die Entfernung der Gonaden, während bei der Sterilisation die Samenleiter bzw. Eileiter unterbrochen werden. Beide Methoden haben unterschiedliche Auswirkungen auf die Hormonproduktion und das Verhalten des Hundes.
  • Verhaltensänderungen: Eine Kastration kann verschiedene Verhaltensprobleme wie Aggressivität, Markieren und Streunen beeinflussen, jedoch sind die Effekte nicht einheitlich und können individuell unterschiedlich ausfallen.
  • Kastrationszeitpunkt: Der Zeitpunkt der Kastration, insbesondere bei Hündinnen in der Anöstrusphase, und der Kastrationsmonat bei Rüden sind entscheidend für die langfristigen Auswirkungen und mögliche Komplikationen.
  • Risiken einer Frühkastration: Eine Kastration vor Abschluss der Pubertät kann schwerwiegende Folgen wie Wachstumsstörungen, Gelenkprobleme und emotionale Instabilität haben.
  • Gesundheitliche Aspekte: Neben den potenziellen Verhaltensänderungen sollten auch die negativen gesundheitlichen Auswirkungen einer Kastration wie Gelenkerkrankungen, Immunerkrankungen und ein erhöhtes Risiko für bestimmte Krebsarten berücksichtigt werden.

In diesem Fachartikel beleuchtet die Verhaltensbiologin und dogondo-Expertin Carina Kolkmeyer die Kastration des Hundes und geht in ihren Ausführungen besonders auf die damit verbundenen Veränderungen und verhaltensspezifischen Auswirkungen ein. 

In Ergänzung zu unserem Leitartikel "Kastration beim Hund: Alles was Du dazu wissen musst!" wollen wir Dir gemeinsam in Zusammenarbeit mit Carina Kolkmeyer weitere Aspekte an die Hand geben, um Dir im Hinblick auf eine angedachte Kastration Deines Hundes eine bessere Entscheidungshilfe zu verschaffen. Denn leider werden immer noch zu viele Pauschalkastrationen, ohne tiermedizinische Indikation durchgeführt, die mitunter fatale Folgen für den betreffenden Vierbeiner haben.

Das Ziel unseres Fachbeitrags ist es somit, durch das Expertenwissen für noch mehr Aufklärung rund um die Kastration von Rüden und Hündinnen zu sorgen und mögliche Verhaltensänderungen und gesundheitliche Folgen aufzuzeigen - denn das Wohlergehen der einzelnen Hundepersönlichkeit liegt uns sehr am Herzen.

Vier unterschiedlich große Hunde sitzen aufgereiht nebeneinander auf der Wiese frontal zum Betrachter

Einleitung - Gedanken zur Kastration von Carina Kolkmeyer

Früher oder später wird beinahe jeder Hundehalter einmal im Leben mit der Frage konfrontiert, ob sein Hund kastriert ist oder nicht. Gleichzeitig kommen viele weitere Fragen auf:

  • Wann ist eine Kastration sinnvoll und wann nicht?
  • Schafft eine Kastration wirklich bestimmte „Verhaltensprobleme“ ab?
  • Schützt eine Kastration vor der Entstehung spezifischer Krankheiten? Wann ist denn der beste Zeitpunkt für eine Kastration?

Eins sei vorweg gesagt: es gibt keine pauschale Antwort auf all diese Fragen und deswegen sollte auch niemals pauschal kastriert werden.

Wenn von der (chirurgischen) Kastration gesprochen wird, ist damit die Entfernung der Gonaden gemeint, d.h. im Falle des Rüden werden die Hoden operativ entfernt und im Falle der Hündin werden die Eierstöcke (und ggf. Gebärmutter = Totaloperation) entfernt. Der Eingriff führt jeweils zur Unfruchtbarkeit des Hundes, da keine Spermien bzw. Eizellen mehr gebildet werden. Allerdings entfällt damit auch weitgehend die Produktion der Sexualhormone, da diese in den Hoden und Eierstöcken gebildet werden (Günzel-Apel & Bostedt 2016).

Eine Alternative zur Kastration ist die Sterilisation. Bei dieser Methode werden beim Rüden die Samenleiter unterbrochen und bei der Hündin die Eileiter unterbrochen, sodass der Hund unfruchtbar wird. Die Hoden bzw. die Eierstöcke bleiben dabei intakt und somit wird die Sexualhormonproduktion nicht eingeschränkt (Günzel-Apel & Bostedt 2016).

 

Die Auswirkungen einer Kastration, sei es gesundheitlich oder verhaltensbiologisch, können mitunter verheerend sein. Nicht selten ist der eine oder andere Hundehalter enttäuscht, wenn eine Kastration nicht den gewünschten „Wau“-Effekt hat. Die Gründe für eine Kastration des Hundes sind hier, v.a. geschlechtsabhängig, ganz unterschiedlich.

Aus welchen Gründen werden Rüden kastriert und welche Veränderungen sind zu erwarten?

Oft genannte Kastrationsgründe beim Rüden sind beispielsweise das Aufreiten, die Hypersexualität, die Aggressivität, das Markieren oder Streunen (Niepel 2007; Kriese et al. 2022; Warnes, 2018).

Die Aggressivität ist eines der größten und heikelsten Hundethemen. Jedoch ist das Problem der Aggression bei Hunden äußerst vielschichtig. Es gibt mehr als eine Art von Aggression und nichts lässt sich auf bestimmte Rassen beschränken (Archer 2004; Borchelt 1983; Galac & Knol 1997; Blackshaw 1991). Vielmehr ist es eine Kombination verschiedener Einflussfaktoren, die zu Aggressivität führen können. Wichtig ist es, zwischen den verschiedenen Formen der Aggression zu unterscheiden  (Huntingford & Turner 1987).

Besondere Vorsicht sei bei der Angstaggression oder generell bei Angst, Stress und Panik geboten: Das Hormon, das hierfür verantwortlich ist, ist das Stresshormon Cortisol. Als Bestandteil des Stresssystems wird das Cortisol durch eine Reihe von Botenstoffen (z.B. Serotonin und Oxytocin) und auch durch die Sexualhormone moduliert. Sowohl das Testosteron als auch das Östrogen und Progesteron bilden die Gegenspieler des Cortisols (s. Abb. 1). Fallen diese wichtigen Drahtzieher als Stressdämpfer weg, könnte ein dauerhaft erhöhter Cortisollevel die Folge sein (Henry & Stephens 1977; Cumming et al. 1983; Hamilton et al. 2008). Ein Hund, der bereits vor der Kastration stark vom Cortisol beeinflusst wird, wäre demnach nach der Kastration noch ängstlicher und gestresster und sein Verhalten könnte keinesfalls durch eine Kastration abgeschafft werden. Er wäre nicht mehr in der Lage, adäquat auf Stressreize zu reagieren. Und wer würde gerne mit einem Auto ohne Stoßdämpfer über eine holperige Straße fahren?

In diesem Zusammenhang fanden Salavati et al. (2018) bei kastrierten Hunden erhöhte Cortisol- und niedrige Serotoninspiegel. Diese Ergebnisse werden durch neuere Verhaltensstudien gestützt, in denen kastrierte Rüden ebenfalls ängstlicher, panischer und angst-aggressiver waren als ihre intakten Artgenossen (Farhoody et al. 2018; Kaufmann et al 2017; Kolkmeyer et al. 2021; Kriese et al. 2022).

Schematische Darstellung des Stresshormons Cortisol mit den Sexualhomonen als Gegenspieler
Schematische Darstellung des Stresshormons Cortisol mit den Sexualhomonen als Gegenspieler

 

Eine ähnliche Form wie die Angstaggression, die nicht sexueller Natur ist, ist die Selbstverteidigungsaggression (Wingfield et al. 2006; Archer 1997). Diese Aggression ist eine der häufigsten und oft fehlinterpretierten Formen der Aggression. Sie wird durch Stresshormone beeinflusst und tritt vor allem in Stresssituationen auf (Heberer et al., 2017; O'Heare, 2009).

Die Partnerschutz-/Eifersuchtsaggression ist wiederum vom Vasopressin abhängig (Bielsky & Young 2004; MacLean et al. 2017) und die Jungtierverteidigung steht vor allem mit dem Prolaktin (Elternhormon) in Verbindung (Asa & Valdespino 1998). Diese zwei Formen der Aggressivität sind beispielsweise unabhängig vom Testosteron und können dadurch nicht via Kastration abgeschafft werden. Im schlimmsten Falle würde sich die Jungtierverteidigung sogar noch verschlechtern, da eine gewisse Menge an Testosteron (die durch die Nebennierenrinde auch nach der Kastration noch gebildet wird) dazu führen würde, dass noch mehr Prolaktin gebildet wird (Redman et al. 2021). 

Nach einer US-amerikanischen Studie neigen mehr kastrierte als intakte Hündinnen dazu, aggressives Verhalten zu zeigen und andere Hunde zu attackieren. Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen Hsu & Sun (2010): auch hier waren die kastrierten Hündinnen und Rüden aggressiver gegenüber ihrem Halter/ihrer Halterin als intakte Hunde. Laut Podberscek & Serpell (1996) zeigen signifikant mehr kastrierte als intakte Hündinnen Aggressionen gegenüber Kindern aus demselben Haushalt.

Guy et al. (2001) fanden heraus, dass kastrierte Hündinnen doppelt so häufig beißen wie intakte (unkastrierte). Die Hündinnen, die vor der Kastration keinerlei aggressive Verhaltensweisen gegenüber Kindern zeigten, zeigten nach der Kastration Aggression gegenüber Kindern.

Neben den Studien, in denen ein negativer Einfluss der Kastration auf aggressives Verhalten beobachtet wurde (Jacobs et al. 2018; Flint et al. 2017), gibt es auch Studien, in denen aggressives Verhalten bei weiblichen Hunden unabhängig von der Kastration zu sein scheint (Balogh et al. 2018), in denen allerdings die Empfindlichkeit gegenüber Lärm oder eine intensivere Angstreaktion bei den kastrierten Hunden höher war (Balogh et al. 2018). Umgekehrt wurde auch von positiven Auswirkungen der Kastration auf die Aggression berichtet (Casey et al. 2014; Matos et al. 2015).

Als weitere Kastrationsgründe werden häufig das Markieren und das Streunen genannt. Dazu beschreiben Knol & Egberink-Alink (1989) die möglichen Verhaltensänderungen bei Hunden und Katzen nach einer Kastration. Bei Rüden lassen sich durch Kastration die Aggression, das Urinmarkieren und das Streunen gegenüber anderen Rüden reduzieren. Beim Markieren konnte jedoch hauptsächlich das innerhäusliche Markieren reduziert werden, das außerhäusliche blieb größtenteils bestehen.

Bei Hündinnen stellten Hart et al. (1996) fest, dass diese nach einer Kastration weiterhin markieren. Interessanterweise kann die Häufigkeit des Urinmarkierens mit der Embryonalentwicklung der Hündin in Verbindung stehen. Durch einen Testosteronschub, bedingt durch die Position in der Gebärmutter kann eine Hündin maskuliner werden. Dies führt zu vermehrten männlichen Verhaltensmustern wie Urinieren mit erhobenem Bein oder generell häufigeres Markieren (Strodtbeck & Gansloßer 2011).

Einer der Kastrationsgründe ist zudem das Aufreiten. Bei dem Thema sei zunächst darauf hingewiesen, dass es nicht zwangsläufig im sexuellen Zusammenhang auftritt, sondern im Zuge des Übersprungverhaltens, als Stressabbau, im spielerischen Kontext oder als Stereotypie gezeigt werden kann. Insbesondere bei stressigen Situationen kann der Hund durch das Aufreiten ein „Beruhigungsmittel“ gefunden haben und damit versuchen, seinen Stress zu mindern. Eine Kastration würde dieses Verhaltensmuster eher verschlimmern, statt zu verbessern.

Um die Sexualität bzw. das Sozialsystem unserer Vierbeiner zu verstehen, muss das gesamte Verhaltensrepertoire der Hunde berücksichtigt werden. Es ist nicht empfehlenswert, den Hund auf ein triebgesteuertes Wesen zu reduzieren. Statt Sex bzw. Fortpflanzung strebt der Hund eher positive (Paar-) Bindungen an, die auf sozialer und nicht sexueller Ebene eingegangen werden (Miklósi & Topál 2013).

Hypersexuelles Verhalten kann eine Kastration nur dann reduzieren, wenn es sich um echtes Sexualverhalten, incl. der gesamten Flirt-Kaskade handelt (Kinnruhen, Zähneklappern, Genital- und Inguinalbereich (Leistengegend) beriechen und lecken, Besteigen incl. umklammern und Beckenstöße u.v.m.). Nur in solchen Fällen und nur dann, wenn es exzessiv auftritt und zu einem dauerhaften Leidenszustand für den Rüden wird, haben wir eine Abhängigkeit vom Testosteron und eine Kastration kann hier Abhilfe schaffen. 

In der folgenden Tabelle sind die häufigsten Kastrationsgründe aufgelistet mit den ursächlichen Hormonen:

Aggressionsform Hormone Veränderungen nach der Kastration
  • Angstaggression
  • Futteraggression
  • Cortisol

= Gegenspieler der Sexualhormone

Nach Kastration:

Verschlimmerung, da stressdämpfende Wirkung entfällt.

  • Jungtierverteidigung
  • Prolaktin & Testosteron
Keine Veränderung oder Verschlimmerung, da die geringe Testosteronmenge über die Nebenniere das Prolaktin erhöht.
  • Statusaggression
  • Testosteron & Serotin
Je nach Rassezugehörigkeit Verbesserung möglich, wenn nicht serotinabhängig und schon im Gehirn gespeichert.
  • Partnerschutz
  • Vasopressin
Keine Veränderung zu erwarten.

 

Darüber hinaus kann die Kastration die räumliche Orientierung von Hunden negativ beeinflussen. Scandurra et al. (2016) stellten eine Labyrinthaufgabe für intakte und kastrierte Rüden und Hündinnen, wobei die letztere Gruppe mehr Zeit als die intakten Hündinnen benötigte und häufiger Fehler beim Lösen des Labyrinths machte.

Zwei Hunde stehen im Wasser am Meer und einer versucht den anderen zu beißen

Kastrationszeitpunkt - Wenn denn dann, wann denn dann…?

Bei der Hündin sollte eine Kastration nur in der hormonellen Ruhephase, also in der Anöstrusphase, durchgeführt werden. Dies würde ungefähr 3 Monate nach der Läufigkeit entsprechen.

Doch nicht nur bei der Hündin heißt es genauer hinzuschauen, wann der beste Zeitpunkt einer Kastration ist, sondern auch beim Rüden kann vor allem der Kastrationsmonat ausschlaggebend für sein zukünftiges Leben sein:

Es gibt Berichte von Hundehaltern darüber, dass ihr Rüde nach der Kastration von anderen Rüden belästigt wird. Diese „Flirtattacken" kommen immer wieder (auch unbemerkt) vor und wurden bereits durch Wörner et al. (2017) bestätigt.

Der Grund für die mögliche erhöhte Attraktivität von kastrierten Rüden liegt vermutlich in der Zusammensetzung der Analdrüsensekrete. Es werden bestimmte Duftstoffe aus den Drüsen freigesetzt, die vor allem der Kommunikation dienen (Scharl 2010).

Die chemische Zusammensetzung dieses Sekrets kann jahreszeitlich variieren. So gelten  weibliche Hundeartige für eine bestimmte Zeit nach der Paarung (im März) durch spezifische Höchstwerte in ihrer Geruchszusammensetzung als besonders attraktiv. Ähnliche saisonale Schwankungen in der Geruchszusammensetzung wurden auch bei Rüden festgestellt (Raymer et al. 1984 & 1986). Wenn ein Rüde in diesen Monaten (besonders Feb/März/April) kastriert wird, bleibt er möglicherweise auf diesem Duftlevel stehen und wirkt dadurch äußerst attraktiv für andere Rüden (Wörner et al. 2017).

Für beide Geschlechter gilt allerdings: Bitte nicht zu früh kastrieren. Es sollte immer die Pubertät abgewartet werden und dem Hund die Möglichkeit geboten werden, seine vollständige erwachsene Reife zu erlangen. Für kleinere Hunderassen gilt als grober Richtwert, dass der Hund mit ca. 1,5 Jahren die Pubertät durchlaufen hat. Größere Hunderassen sind meistens „Spätentwickler“ und da kann es durchaus bis zu 2,5 Jahren dauern (Strodtbeck & Gansloßer 2011; Hart et al. 2020a & 2020b). Zur Orientierung kann auch die Anzahl an Läufigkeiten dienen: Die Pubertät gilt frühestens nach Ende aller Phasen der 3. Läufigkeit als beendet. 

Frühkastration

Eine Kastration vor dem Abschluss der Pubertät zählt zu einer Frühkastration und kann mitunter verheerende Folgen haben.

Um die Risiken einer Frühkastration für den Hund zu verstehen, muss man sich bewusst werden, wie bedeutsam die Pubertät für den Hund ist. Innerhalb dieser Phase kommt es zu einem Anstieg der Geschlechtshormone beziehungsweise der Steuerungshormone, die für die Produktion der Sexualhormone verantwortlich sind (z.B. GnRH). Die Pubertät wird durch bestimmte Gene beeinflusst. Dies führt zu einer Aktivierung der Geschlechtshormone, wodurch die Schilddrüse aktiviert wird und Thyroxin als Wachstumshormon (Nerven-Wachstumsfaktor) ausgeschüttet wird. Die daran beteiligten Hormone sind für das Längenwachstum der Röhrenknochen von entscheidender Bedeutung.

Frühkastrierte Hunde können daher unter verstärktem Längenwachstum, Gelenkschmerzen, deformierten und/oder brüchigen Knochen leiden. Weiterhin kommt es häufiger zu Hüftgelenks- oder Kniegelenksdysplasien und sie können einen holperig aussehenden Gang aufweisen. Neben Gelenks- und Nervensystemproblemen können auch Herz-Kreislauf-Probleme (z.B. ein zu kleines Herz für einen zu großen Hundekörper) auftreten (Torres de la Riva et al. 2013; Hart et al. 2014).

Auch im Gehirn finden während der Pubertät einige „Umbaumaßnahmen“ statt. Das Netzwerk der Nervenbahnen reift weiter aus, um eine optimale Reizweiterleitung zu schaffen. Der Hund gewinnt in der Adoleszenz zunehmend an Impulskontrolle, d.h. aus den eher emotional gesteuerten Handlungen werden nun rationale Entscheidungen (Strauß 2023; Crone 2009). Frühkastrierten Hunden fehlen diese wichtigen Exekutivfunktionen und sie bleiben schließlich auf einem kindlichen Niveau stehen, das sich in einem unreifen und emotional instabilen Charakter widerspiegeln kann (Strodtbeck & Gansloßer 2011).

Ein junger Beagle mit aufgerichtem Schwanz steht fokussiert auf einer Wiese und schaut in die Ferne

Wie steht’s mit der Gesundheit?

In den letzten Jahren haben Studien gezeigt, dass die Kastration (bei jungen und ausgewachsenen Hunden) negative gesundheitliche Auswirkungen wie Gelenkerkrankungen (Warnes, 2008; Hart & Hart, 2021) oder Immunerkrankungen (Sundburg et al. 2016) haben kann. Speziell die Schilddrüsenunterfunktion (SDU oder HYPO) tritt bei dreimal so vielen kastrierten Rüden und zwölfmal so vielen kastrierten Hündinnen wie intakten Hunden auf (Sundburg et al. 2016).

Neben einem erhöhten Risiko für Kreuzbandrisse können auch viele Krebsarten wie Herztumoren, Prostatakrebs, Analtumoren, Mastzelltumoren oder Lymhdrüsenkrebs vermehrt bei kastrierten Hunden vorkommen (Hart & Hart 2021; Reichler 2009).

Bei Hündinnen werden oft die Mammatumoren (Gesäugetumoren) als Kastrationsgrund genannt. Um diese Erkrankung zu vermeiden, wird präventiv kastriert. Jedoch sei an dieser Stelle gesagt, dass diese Erkrankung weniger häufig vorkommt als oft angenommen wird, wobei die Spannbreite des Vorkommens hier recht groß ist (0,2 -3,5 %; www.uni-giessen.de). Wird eine Hündin nach der ersten Läufigkeit kastriert, sinkt das Risiko auf 0,05-0,5 % und bei einer Kastration vor der ersten Läufigkeit beträgt es 0,01-0,09%. Die Wahrscheinlichkeit zur Entstehung verändert sich daher lediglich um Nuancen und insbesondere vor dem oben angesprochenen Hintergrund, dass eine Kastration eine lange Liste gesundheitlicher Nebenwirkungen in sich birgt, sollte genauestens abgewogen werden.

Zudem ist eine Kastration aus einem reinen präventiven Gedanken heraus gesetzlich nicht erlaubt (Bartscherer et al. 2021). Basierend auf diesem Kerngedanken müssten auch Milz, Leber und Gehirn präventiv entfernt werden, da diese ebenfalls mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit entarten könnten.

Kurzer gesetzlicher Exkurs:

Laut dem Tierschutzgesetz ist eine Kastration nur mit ärztlicher Indikation erlaubt. Genaueres dazu steht unter § 6 Abs. 1 TierSchG: 

 „(1) Verboten ist das vollständige oder teilweise Amputieren von Körperteilen oder das vollständige oder teilweise Entnehmen oder Zerstören von Organen oder Geweben eines Wirbeltieres. Das Verbot gilt nicht, wenn

  • 1. der Eingriff im Einzelfall 
    • a) nach tierärztlicher Indikation geboten ist (…).“

Ausgenommen von dem Verbot in § 6 Abs. 1 Satz 1 sind Fälle „zur Verhinderung der unkontrollierten Fortpflanzung oder - soweit tierärztliche Bedenken nicht entgegenstehen - zur weiteren Nutzung oder Haltung des Tieres eine Unfruchtbarmachung vorgenommen wird.“ (§ 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 TierSchG).

Jedoch gelten die oben genannten Ausnahmen grundsätzlich nicht für Hunde, da ihre Fortpflanzung im Gegensatz zu Katzen kontrollierbar ist und der Hund in Deutschland nicht als Streuner betrachtet wird. Folglich ist die juristische Legitimität einer Kastration, die ohne medizinische Indikation durchgeführt wird, sehr begrenzt (Bartscherer et al. 2021).

Eine Kastration auf Probe

Ehe sich für den Eingriff der chirurgischen Kastration entschieden wird, sei an dieser Stelle auf ein Alternativmodell verwiesen, den Kastrationschip. Auf diese Weise wird der Hund chemisch kastriert mit dem großen Vorteil, reversibel zu sein. Die Hormonproduktion des Hundes wird ebenso heruntergefahren und die Hoden schrumpfen. Allerdings kommt es beim Kastrationschip, anders als bei einer chirurgischen Kastration, innerhalb der ersten 4-6 Wochen zu einem Testosteronpeak, d.h. der Rüde schüttet in den ersten Wochen eine enorm hohe Menge an Testosteron aus, ehe es dann erst zum eigentlichen Effekt kommt und die Testosteronproduktion heruntergefahren wird.

Je nach Chip-Auswahl, wirkt das Implantat entweder 6 oder 12 Monate und nach Ablauf der Wirkung, entfalten die Hoden sich wieder in ihrer Größe, die Testosteronproduktion wird wieder aufgenommen und der Hundehalter hatte nun die Möglichkeit, durch diesen Probelauf, das Verhalten des Hundes einzuschätzen. Der Chip bietet daher die optimale Möglichkeit, das „als ob kastriert“- Verhalten des Hundes zu beobachten, um dann hinterher eine Entscheidung für oder gegen eine Kastration abzuwägen.

Hast Du Lust noch mehr zur Kastration auf Probe als sanfte Alternative zu erfahren? Dann hast Du nun die Gelegenheit unseren umfassenden Artikel zur chemischen Kastration auf Zeit via Hormonchip zu lesen. Entdecke alle Vorteile und wichtigen Tipps dazu von unserer Tierärztin Vanessa Lässig.

 

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Tierklinik für Reproduktionsmedizin und Neugeborenenkunde - Krankenbericht

Kastration Hund: Weitere Fachliteratur und Buch-Tipps

Anbei wollen wir noch eine lesenswerte und informative Buch-Empfehlung ergänzend zum Thema Kastration mit auf den Weg geben. Die Lektüre lohnt sich!

Kastration und Verhalten beim Hund (Anzeige) von Sophie Stodtbeck (Autor) und Udo Gansloßer (Autor)

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