Vestibularsyndrom beim Hund
Wenn der Hund Gleichgewichtsstörungen zeigt
Von:
Vanessa Lässig
Zuletzt aktualisiert am: 11.9.2023
Das Vestibularsyndrom (VBS) beim Hund wird fälschlicherweise oft als eigenständige Erkrankung angesehen oder als „Schlaganfall“ betitelt. Es ist aber eigentlich nur ein Symptomenkomplex, also das Auftreten mehrerer typischer Symptome gleichzeitig, die auf bestimmte Erkrankungen des Gleichgewichtssinns (Gleichgewichtssystem) hindeuten.
Um den Körper koordinieren und eine aufrechte Körperhaltung ermöglichen zu können, scannt das Gehirn, über verschiedene Nerven und Körperteile, ständig die Umgebung bzw. die Stellung des Körpers in dieser Umgebung / dem Raum. Merkt das Gehirn, dass wir uns in Schieflage befinden, z.B. weil wir stolpern oder hinfallen, werden einzelne Körperregionen aktiviert, um wieder ins Gleichgewicht zu geraten. Ebenso werden auch Haltung und Stellung der einzelnen Körperteile ständig abgeglichen, sodass wir nicht den ganzen Tag mit schiefem Kopf oder hochgestreckten Armen herumlaufen. Auch Fernsehen in Seitenlage, z.B. liegend auf dem Sofa, ist nur möglich, weil unser Gehirn die neue Körperlage registriert und den Augen mitteilt, dass sie sich umstellen bzw. im Kopf das empfangene Bild gedreht werden muss. Selbiges geschieht natürlich auch beim Hund und bei anderen Lebewesen. Schon Abweichungen von wenigen Grad werden registriert und korrigiert.
Gerät nun dieses ausgeklügelte System durcheinander, entsteht der Symptomenkomplex eines Vestibularsyndroms: Kopfschiefhaltung, Nystagmus (rhythmische Augenbewegungen) und Koordinationsprobleme (Ataxie, Stolpern, Fallen, Kreislaufen, um die eigene Achse drehen). Zusätzlich können auch Übelkeit, Erbrechen, eine Fazialislähmung oder ein Hornersyndrom auftreten. Bei bestimmten Varianten des VBS (paradoxes und bilaterales) können die typischen Symptome auch gänzlich fehlen, was die Diagnose erschwert.
Anhand der Ursache können zwei Hauptformen des VBS unterschieden werden:
- das periphere („äußerliche“) und
- das zentrale („innere“) Vestibularsyndrom
Das periphere VBS entsteht, wenn am Gleichgewichtssinn beteiligte Strukturen außerhalb (peripher) des Gehirns betroffen sind. Dazu zählen das sogenannte Gleichgewichtsorgan (Vestibularorgan, Vestibularapparat) im Innenohr und der damit verbundene 8. Gehirnnerv (Nervus vestibularis), der die Informationen vom Gleichgewichtsorgan ans Gehirn weiterleitet.
Das Gleichgewichtsorgan besteht aus mehreren bogenförmigen Gängen, die mit einer gallertigen Maße bzw. Flüssigkeit (Endolymphe) gefüllt sind und ein dreidimensionales Gebilde ergeben. Bewegen sind nun Kopf bzw. Körper, gerät die „Füllung“ ebenfalls in Bewegung und löst Impulse aus, die das Gehirn auswerten kann, um Haltung und Stellung im Raum zu ermitteln und ggf. anzupassen. Werden diese Informationen verfälscht oder unzureichend weitergeleitet, kommt es zu Gleichgewichtsstörungen.
Ursache können beispielsweise Entzündungen des Mittel- oder Innenohres (Otitis media / interna), Virusinfektionen, Vergiftungen, Stoffwechselerkrankungen (Hypothyreose) oder Tumore sein.
Beim zentralen VBS liegt das Problem im Gehirn, d.h. die Informationen vom Gleichgewichtsorgan kommen zwar korrekt an, können aber nicht verarbeitet werden. Ursache sind Schädigungen weiterer, an der Verarbeitung beteiligter, Nerven oder wichtiger Gehirnabschnitte (Hirnstamm, Kleinhirn). Diese Schäden können, ähnlich wie beim peripheren VBS, durch verschiedenste Entzündungen, Infektionen, Vergiftungen oder Tumore entstehen. Typische Auslöser wären außerdem eine Durchblutungsstörung (Hirninfarkt) oder ein altersbedingter/krankheitsbedingter Abbau von Hirnzellen. Beim sogenannten geriatrischen Vestibularsyndrom, das v.a. bei Senioren auftritt, ist die Ursache unbekannt und eine Therapie entsprechend schwierig. Ähnlich wie bei idiopathischer Epilepsie, sind keine Veränderungen im Gehirn sichtbar und auch das Innenohr erscheint normal. Mit einem zentralen VBS geht außerdem meist auch eine Bewusstseinstrübung einher, sodass betroffene Hunde kaum ansprechbar sind oder zusätzlich „unsinnige“ Dinge tun, z.B. grundlos bellen. Ob dieses Verhalten schon vor Auftreten der VBS-Symptome vorhanden war, kann wichtige Hinweise auf die Ursache liefern (vgl. Kognitive Dysfunktion, Demenz).
Medikamente können ebenfalls ein VBS auslösen. Zum Beispiel die Antibiotika Gentamicin und Metronidazol. Treten während einer Behandlung mit diesen Medikamenten entsprechende Symptome auf, sollte die Einnahme sofort gestoppt werden.
Äußerlich sind peripheres und zentrales VBS kaum zu unterscheiden. Die Art der Augenbewegungen, Ausfälle von Hirnnerven und Ansprechbarkeit können einen Hinweis liefern: Ein horizontaler Nystagmus (Augenbewegungen rechts/links) kommt vorzugsweise bei peripherem VBS vor, ein vertikaler (Augenbewegungen hoch/runter) vorzugsweise bei zentralem. Diese Unterscheidung ist aber nicht 100% sicher, denn beide Formen können bei beiden Versionen vorkommen und auch ein rotatorischer Nystgamus (Augen drehen sich im Kreis) ist bei beiden Formen möglich. Die Schnelligkeit der Augenbewegungen kann auch einen Hinweis geben: bei peripherem VBS sind sie deutlich schneller als bei zentralem.
Ausfälle der Hirnnerven treten vorzugsweise beim zentralen VBS auf, ebenso Bewusstseinstrübungen.
Um peripheres und zentrales VBS definitiv zu unterscheiden, sind weitere Untersuchungen der beteiligten Strukturen notwendig. So können Untersuchungen der Ohren (Otoskopie) oder bildgebende Verfahren (Röntgen, MRT, CT) zur Untersuchung des Kopfes (knöcherne Strukturen, Innenohr, Gehirn, Rückenmark) wichtige Beweise liefern. Mitunter sind auch invasivere Eingriffe, z.B. ein Durchstechen des Trommelfells (für bessere Sicht, Abflussmöglichkeit von Eiter) oder die Entnahme von Rückenmarkswasser (Liquor), zur Detektion einer Entzündung/Infektion, notwendig. Ist die Ursache gefunden, kann entsprechend behandelt werden. Jedoch ist nicht in allen Fällen eine Komplettheilung möglich, sondern leichte Schiefhaltungen oder anderweitige neurologische Defizite können zurückbleiben. Auch Rückfälle nach einigen Tagen, Wochen oder Monaten sind nicht selten.
Je nach Ursache kommen zur Behandlung des Vestibularsyndroms beim Hund verschiedene konservative und chirurgische Maßnahmen zum Einsatz. Entzündungen und Infektionen können gut medikamentös (Entzündungshemmer, Antibiotika, Virostatika) behandelt werden. Ebenso Stoffwechselstörungen und Vergiftungen. Bei Verletzungen oder Tumoren ist meist eine Operation notwendig. Degenerative Prozesse (z.B. altersbedingter/krankheitsbedingter Abbau von Hirnzellen) oder Infarkte sind nicht behandelbar, sodass nur symptomatisch eingegriffen werden kann (Entzündungshemmer, B-Vitamine, Antiemetika, Infusion etc.).
Sollte Ihr Hund typische Symptome eines Vestibularsyndroms zeigen, handelt es sich nicht um einen Notfall. Die Ursache sollte aber dennoch zeitnah abgeklärt und dem Patienten geholfen werden. Ein ruhiger, weicher Liegeplatz und das Vermeiden von Stürzen sind gute Maßnahmen, um den Hund bis zum Tierarzttermin zu unterstützen.
Synonyme
- VBS
- Vestibular-Syndrom
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